Offener Brief des Ständigen Ausschusses des „Forums des Freien Russlands“ an die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Offener Brief des Ständigen Ausschusses des „Forums des Freien Russlands“ an die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
wir, die Mitglieder des Ständigen Ausschusses des „Forums des Freien Russlands“, appellieren an Sie mit der Bitte, die Realisierung von Nord Stream 2 zu verhindern. Bei diesem Projekt wird eine Erdgasleitung unter der Ostsee direkt von Russland nach Deutschland unter Umgehung von Osteuropa.
Das Nord Stream 2-Projekt stellt eine Bedrohung für die globale Sicherheit dar, da es hohe politische, soziale, ökologische und klimatische Risiken mit sich bringt.
Politische Risiken
Das Nord Stream-2-Projekt schafft schon heute geopolitische Instabilität, noch bevor die Pipeline in Betrieb genommen wird. Sie führt zu Spannungen zwischen Ost- und Westeuropa. Wir haben keinen Zweifel, dass der Kreml diese Pipeline benötigt, um seinen geopolitischen Einfluss auf Europa zu verstärken.
Derzeit sind Transitpipelines auf dem Territorium der Ukraine eine Art Abschreckung für den Kreml – es ist kein Zufall, dass Militäroperationen nicht in der Nähe der Orte durchgeführt werden, an denen die Pipelines verlegt sind, die russisches Gas nach Westeuropa transportieren. Nach der Umsetzung des Nord Stream 2-Projekts können die russischen Behörden auf Transitpipelines verzichten, die durch ukrainisches Territorium führen. Das kann die Voraussetzungen für eine Eskalation des militärischen Konflikts in der Ukraine schaffen, da der Kreml nicht mehr um die Sicherheit des Gastransports durch dieses Land fürchten muss.
Mit Nord Stream 2 werden die russischen Gaslieferungen an die EU in einem gefährlichen Maß von den bilateralen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin abhängen. Dies erhöht das Risiko, dass Putin die Pipeline nutzt, um die politische Entscheidungsfindung in Deutschland und dem restlichen Europa zu beeinflussen. Die russischen Behörden haben die Erdgasversorgung immer als politisches Instrument und nicht als kommerziellen Vorgang betrachtet. Der Bau von Nord Stream 2 wird die Abhängigkeit Europas von den politischen Ambitionen des Kremls erhöhen.
Die Einnahmen aus Öl und Gas machen rund 37 Prozent des Staatshaushalts Russlands aus. Indem Europa für russisches Gas bezahlt, finanziert es weitgehend die Unterdrückung durch das Putin-Regime, die Propaganda-Maschine und die militaristischen Abenteuer des Kremls.
In Russland sind große Infrastrukturprojekte staatseigener Unternehmen in der Regel mit schwerwiegender Korruption verbunden, dank derer das Geld der russischen Steuerzahler bei einem Clan von Geschäftsleuten aus dem Umfeld der russischen Regierung landet. Die Stellung des autoritären Regimes wird so durch zusätzliche finanzielle Ressourcen aus der Korruption gestärkt.
Die ökologischen Probleme
Auf russischem Territorium verläuft die Pipeline durch ein besonders wertvolles Gebiet – das Naturschutzgebiet Kurgalsky. In diesem Reservat wurden illegale Arbeiten zur Umsetzung des Nord Stream 2-Projekts ohne Genehmigung durchgeführt, wodurch Hunderte seltener Pflanzen zerstört wurden.
Die Umsetzung des Nord Stream 2-Projekts wird zur Zerstörung wertvoller Naturgebiete führen, die Lebensräume seltener Arten sind, die im Roten Buch Russlands aufgeführt sind, insbesondere Seeadler und Seehunde.
Das Projekt Nord Stream 2 widerspricht den Verpflichtungen Russlands im Rahmen zweier internationaler Übereinkommen: der Espoo-Konvention und der Ramsar-Konvention über Feuchtgebiete.
Soziale Fragen
Öffentliche Anhörungen, die von der Nord Stream 2 AG organisiert wurden, wurden mit Verstößen abgehalten, da die Materialien der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für das Projekt gefälscht waren: Der Wert des Naturschutzgebiets Kurgalsky wurde bewusst zu gering eingeschätzt. Von Greenpeace Austria veröffentlichte Dokumente weisen darauf hin, dass zur Umsetzung dieses Projekts eine gezielte Änderung der russischen Umweltgesetzgebung vorgenommen wurde.
Die Ankündigung der öffentlichen Anhörungen wurde äußerst schlecht organisiert und viele Anwohner konnten sich nicht an der öffentlichen Diskussion über das Nord Stream 2-Projekt beteiligen, um ihren Standpunkt darzulegen.
Dies verletzt eindeutig die Rechte der Bewohner der Kurgal-Halbinsel, durch deren Territorium die Nord Stream-Pipeline 2 verläuft und dabei die traditionelle Lebensweise der indigenen Völker zerstört: Der Ischoren, der Woten, der Ingrians und anderer.
In Russland wurde eine öffentliche Petition gestartet. Warin wurde gefordert, das Naturschutzgebiet Kurgalsky vor dem Verlegen einer Pipeline zu schützen. Obwohl für die Petition Tausende von Unterschriften gesammelt wurden, haben sie die Organisatoren der Bauarbeiten völlig ignoriert.
Wir machen Sie auch darauf aufmerksam, dass Gas für das Nord Stream 2-Projekt in Yamal erzeugt wird, das von indigenen Völkern bewohnt wird, die einen nomadischen Lebensstil führen. Infolge der Gasproduktion verlieren die indigenen Völker das Weideland ihrer Tiere, was ihre traditionelle nomadische Lebensweise behindert. Im modernen Russland sind indigene Völker von der Bewirtschaftung ihrer natürlichen Ressourcen ausgeschlossen und de facto Opfer der Kolonialpolitik des Kremls.
Klimaprobleme
Das Nord Stream 2-Projekt soll die Versorgung mit fossilen Brennstoffen für den europäischen Markt langfristig erhöhen. Dies steht im Gegensatz zu den Pariser Abkommen und dem Ziel der Europäischen Union, bis 2050 eine klimaneutrale Wirtschaft aufzubauen.
Entgegen den Behauptungen der Nord Stream 2 AG und von Gazprom stellt die Pipeline daher ein Risiko dar und bietet keinen Klimavorteil. Die „Klimavorteile“ des Projekts basieren auf der Idee, dass eine Erhöhung der Gaslieferungen von Russland nach Europa durch die Ablösung der deutschen Kohle dem Weltklima zugute komme. Das ist grundsätzlich falsch.
Eine weitere Erhöhung der Gaslieferungen von Russland nach Europa wird die Abhängigkeit von Kohle in Russland und seinen Nachbarländern zwangsläufig erhöhen. Derzeit wird in Russland etwa 25% der Stromerzeugung durch Kohle betrieben. Rund ein Drittel der Bevölkerung Russlands hat überhaupt keinen Zugang zu Erdgasleitungen. Das Programm zum Ausbau der Gasversorgung („Gasifizierung“) in Russland ist von 33,8 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 25 Milliarden Rubel im Jahr 2016 gesunken. Es besteht kein Zweifel, dass die neue Pipeline die Abhängigkeit von Kohle in Russland selbst weiter erhöhen wird, da die Gasproduktion in den letzten fünf Jahren nicht stetig gestiegen ist. So entsteht eine Situation, in der die russische Regierung Europa für das Klima unschädlicheres Gas liefert. In Russland und in den Nachbarländern müssen die Menschen derweil weiterhin klimaschädliche Kohle verwenden, was in Russland bereits zu Umweltproblemen führt.
Zum Beispiel trägt der Einsatz veralteter Kohle-KWK-Anlagen in Krasnojarsk wesentlich zum „Black Sky“ -Effekt bei – einer beispiellos hohen Verschmutzung der Atmosphäre, die bei den Anwohnern massenhaft Unmut auslöst.
Angesichts der hohen politischen, sozialen, ökologischen und klimatischen Risiken des Nord Stream 2-Projekts bitten wir Sie dringend, politischen Willen zu zeigen und das schädliche und gefährliche Projekt aufzugeben.